Gemeinsames Positionspapier zum Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom

Das Positionspapier der Landesärztekammer Baden-Württemberg, des Bundesverbandes Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V. und des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg wurde bei einer Pressekonferenz am 25. September 2002 und der Informationsveranstaltung AD(H)S am 28. September 2002 vorgestellt:

  1. Bei 2 - 10 Prozent aller Kinder und Jugendlichen - aber auch bei Erwachsenen - kann das sog. AD(H)S auftreten. Es handelt sich hier um ein komplexes Krankheitsbild. Nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft geht es mit Veränderungen in der Informationsverarbeitung des Gehirns einher, die insbesondere den Dopamin-Stoffwechsel betreffen. Die Ausprägung der Symptome kann durch weitere Faktoren beeinflusst werden.
  2. Derzeit werden drei Gruppen von verschiedenen Ausdrucksformen des AD(H)S zusammengefasst.
    a) AD(H)S mit vorwiegender Aufmerksamkeitsstörung
    b) AD(H)S mit vorwiegender hyperaktiv-impulsiver Störung
    c) AD(H)S mit kombinierter Störung in beiden Bereichen
    Die betroffenen Kinder fallen meist im frühen Schulalter auf durch extrem leichte Ablenkbarkeit, rasch wechselnde Aktivitäten, fehlende Ausdauer, große "Vergesslichkeit", motorische Unruhe in unterschiedlichen Alltagssituationen, jeweils deutlich mehr als bei gleichaltrigen Kindern üblich.
  3. Ursachen für krankhaft gestörtes Verhalten im Sinne eines AD(H)S können ebenso im sozialen und familiären Umfeld liegen oder allerdings auch genetische Komponenten haben. Ähnliche Verhaltensstörungen können auch Folgen von Erkrankungen sein wie z. B. Frühgeburt, Zustand nach Hirnblutung, Unfälle, Alkohol und Tabak während der Schwangerschaft, Fehlbildungen, Chromosomenstörungen oder geistige Behinderung.
  4. Die Abklärung der Diagnose eines AD(H)S erfordert besondere fachspezifische Kenntnisse, um in multiprofessioneller Differentialdiagnostik diese sorgfältig zu erreichen. 
  5. Methylphenidat (z.B. Ritalin) ist nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft für die Behandlung des AD(H)S geeignet. Jedoch ist jede medikamentöse Behandlung nur eine Säule der Behandlung, die unterstützt werden muss durch soziale und schulische Unterstützung, Hilfen zur Erziehung in Familien und zur Eingliederung bei drohender Behinderung entsprechend der gesetzlichen Vorgaben. Medizinisch-therapeutische Heilmittel (Ergotherapie, Physiotherapie oder Logopädie) und psychotherapeutische Maßnahmen müssen bei entsprechender Erfordernis und ggf. zusätzlich bestehenden Störungen flankierend zur Pharmakotherapie eingesetzt werden. Die regelmäßige Einnahme eines ärztlich verordneten Medikaments muss von den Schulen nach Absprache mit den Eltern und dem Arzt sichergestellt werden.
  6. Die Verordnung von Methylphenidat unterliegt den Bestimmungen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV). Das Mittel führt zu einer Konzentrationserhöhung im Sinne einer besseren Verfügbarkeit von Dopamin im Gehirn. Dies wird als Voraussetzung für ein mögliches Missbrauchspotential von Substanzen angesehen. Nach ersten Ergebnissen einer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geförderten Studie besteht nicht die Gefahr, dass die Behandlung mit einem erhöhten Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiko einhergeht; es zeigt sich sogar ein suchtprotektiver Effekt.
  7. Die Tatsache, dass derzeit insgesamt von einer quantitativen Bedarfsunterdeckung beim Einsatz von Methylphenidat bei AD(H)S in Deutschland auszugehen ist, erklärt den Verbrauchsanstieg, der sich in den beiden letzten Jahren jeweils verdoppelt hat. Es handelt sich hier eher um einen Nachholeffekt durch die Zunahme einer verstärkten gesellschaftlichen Wahrnehmung des Störungsbildes sowie einer verbesserten Diagnostik.
  8. Allerdings muss die Anwendung des Arzneimittels kritisch geprüft werden, um Fehlverordnungen zu vermeiden. Hier müssen fachspezifische Mindestanforderungen als Voraussetzung für die Erstverschreibung festgelegt werden. Die bestehenden Leitlinien zu Diagnostik und Therapie des AD(H)S müssen für Eltern, Lehrer und Therapeuten verständlich gemacht werden und zugänglich sein, um mit dieser Transparenz Verständnis und Unterstützung für die Behandlung der Erkrankten zu gewährleisten.
  9. Der Versorgungsbedarf wird insgesamt als so groß eingeschätzt, dass die vorhandenen Kapazitäten in der Erwachsenen-, Jugend- und Kinderpsychiatrie und -psychotherapie auf keinen Fall quantitativ ausreichen. Die differenzierte Diagnostik wie auch der multimodulare Behandlungsansatz müssen und sollen interdisziplinär erfolgen.
  10. Die indikationsgerechte Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen mit wirksamen und so nebenwirkungsarmen Medikamenten wie möglich ist ein wichtiger Grundpfeiler einer humanen Medizin unabhängig von Alter und Geschlecht. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg