Baden-Württembergischer Ärztetag in Reutlingen analysierte Transplantationsskandal

"Wir brauchen Organe und kein Misstrauen!"

Nach dem Skandal um Organtransplantationen an mehreren deutschen Krankenhäusern wollen die Ärzte im Südwesten das Vertrauen der Patienten ins System zurückgewinnen. Beim Ärztetag Baden-Württemberg, der Ende Juli in Reutlingen stattfand, mahnt daher Dr. Ulrich Clever, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg: „Wer jetzt wegen der Verfehlungen einzelner Ärzte seine Bereitschaft zur Organspende infrage stellt, der trifft die Falschen und raubt Patienten auf der Warteliste die Chance auf Überleben.“ Die Standesvertretung will deshalb die Ärzteschaft wieder mehr für das Thema motivieren.

Ausdrückliche Unterstützung findet dieser Vorstoß bei Sozialministerin Katrin Altpeter: „Wir müssen nicht nur das Vertrauen in die Organspende zurückgewinnen, sondern auch weg von unserer bundesweiten Schlusslichtposition im Hinblick auf die Zahl der Transplantationen.“ Ministerin Altpeter betont, dass die Überprüfung der Transplantationszentren im Südwesten keinen Anhalt für Manipulationen ergeben hat und betont: „In den baden-württembergischen Transplantationszentren sind hervorragende Experten tätig, die durch ihre engagierte Arbeit das Leben Schwerkranker retten.“

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Dr. Rainer Hess, soll die Organisation innerhalb eines Jahres restrukturieren, nachdem die vorige DSO-Führung seit längerem in der Kritik gestanden hatte. In seinem Grundsatzreferat informiert Dr. Hess über die Arbeit seiner Organisation, die nach dem Transplantationsgesetz für die Koordination und die Förderung der Organspende in Deutschland verantwortlich ist. Er bedauert den Rückgang der Organspende-Bereitschaft durch den Skandal und erläutert, dass die DSO wichtige Maßnahmen ergriffen hat: Mit einer stärker öffentlich-rechtlichen Ausrichtung soll das Vertrauen gestärkt werden; der Stiftungsrat ist neu zusammengesetzt, ferner der Fachbeirat stärker fachlich-medizinisch ausgerichtet. Zudem werden eine einrichtungsübergreifende Qualitätssicherung sowie ein Transplantationsregister aufgebaut, erläutert der Jurist. Dr. Hess spart auch nicht mit Kritik: „Die Diagnosis Related Groups sind für die Organspende das denkbar schlechteste Vergütungsverfahren. Bei einem Mangel an Organen kann man nicht fallbezogen vergüten, wenn die Kliniken gleichzeitig im Wettbewerb stehen.“

Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, unterstützt die Aussagen des DSO-Vorstands und beglückwünscht ihn ausdrücklich zu den umfangreichen Maßnahmen, die dieser in so kurzer Zeit umgesetzt hat. Und er hat ein beeindruckendes Zahlenexempel für die Besucher des Ärztetags auf Lager: „850 000 Bürger sterben jährlich in Deutschland. Davon kommen weniger als 5000 für eine Organspende überhaupt infrage. – Machen wir uns keine Illusionen: Bei 12 000 Menschen auf der Warteliste allein in Deutschland müssen wir den Mangel verwalten.“ Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansätze – Widerspruchs-, Selbstbestimmungs-, Erklärungs-Lösung etc. – gibt sich Prof. Montgomery ernüchtert: „Wie sollen die Bürger Vertrauen fassen, wenn sich die Experten über die ‚richtige’ Lösung streiten? Hinzu kommt, dass sich 99 Prozent der Bürger nicht mit einem schlagartig eintretenden Tod auseinandersetzen.“ Der Bundesärztekammer-Chef fordert als Voraussetzung für die Verbesserung des Transplantationswesens eine Optimierung der ärztlichen Weiterbildung, vielleicht sogar die Einführung einer Zusatzbezeichnung. Ferner müssten die Transplantationsbeauftragten gestärkt werden: „170 Euro monatlich für die Beauftragten – diese Handlungstaktik der Gesetzlichen Krankenversicherung ist schändlich; damit kann man kein funktionierendes System aufbauen!“, beklagt Prof. Montgomery zu lautstarkem Applaus der über 200 Besucher des Ärztetages.

Um dem Auditorium einen breiten Überblick zur Thematik zu geben, ergänzen drei Kurzreferate: Dr. Michael Schulze, Präsident der Bezirksärztekammer Südwürttemberg, informiert über die Lebend-Organspende und dass bei den vier Bezirksärztekammern im Südwesten eigene Lebendspende-Kommissionen eingerichtet sind. Dr. Christoph von Ascheraden, Beauftragter für Transplantationsfragen beim Vorstand der Landesärztekammer, berichtet über die Arbeit von Eurotransplant und die Kriterien des MELD-Scores für die Organ-Allokation. Prof. Dr. Georg Gahn, Neurologe am Klinikum Karlsruhe und Berater der Bundesärztekammer, beschreibt detailliert die Untersuchungen und Kriterien für die Diagnose „Hirntod“.

Es schließt sich eine teilweise sehr kontroverse Podiumsdiskussion an. Teilnehmer sind Prof. Montgomery und Dr. Hess, aber auch Prof. Alfred Königsrainer, Transplantationschirurg vom Universitätsklinikum Tübingen, und Prof. Karl Träger, Transplantationsbeauftragter an der Ulmer Uniklinik. Dr. Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung moderiert die Runde und kann dabei auf vielfältige Erkenntnisse zurückgreifen, die sie bei der Aufdeckung des Transplantationsskandals sammelte. Tatsächlich fällt ihre Veröffentlichung der Vorgänge an der Universitätsklinik Göttingen im Jahr 2012 genau auf den Tag des baden-württembergischen Ärztetages 2013, den 20. Juli.

Zahlreiche Themen werden in der 90-minütigen Diskussion berührt, angefangen vom Einfluss des Transplantationsskandals auf die tägliche Praxis von Transplantations-Beauftragten und -Chirurgen über die Effekte von vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zur Feststellung, dass sich durch die Aufdeckung des Skandals leider der Rückgang der Spenderzahlen ergeben hat.

Das Auditorium beteiligt sich zahlreich und mit großer Themen- und Meinungsvielfalt an der Diskussion: So wird beispielsweise die Presse aufgefordert, die Bevölkerung breit über die inzwischen eingetretenen positiven Effekte und Veränderungen nach dem Skandal zu informieren. Ein Großteil der Zuhörer und Diskutanten ist zudem überzeugt, dass die gesetzlich verankerte Aufklärung durch die Krankenkassen nicht zwingend dazu führen muss, dass sich neue Organspender finden. Vielmehr sei es schon begrüßenswert, wenn sich die Menschen aufgrund der Aussendungen der Kassen überhaupt mit der Thematik auseinandersetzen. Am Ende ist einhellige Meinung der meisten Teilnehmer: „Wir brauchen Organe und kein Misstrauen!“

Erwartungsgemäß kann der Südwest-Ärztetag keine Patentrezepte finden, wie sich die Situation der Organspende verbessern und das Vertrauen der Bürger wieder herstellen lässt. Doch das deutlich spürbare Signal, das von der Tagung ausgeht, ist unüberhörbar: Die Ärzteschaft in Baden-Württemberg hat einen ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht und offen über Probleme gesprochen. Die Medien, die Politik und die Gesellschaft sind es den Menschen auf der Warteliste schuldig, dass jetzt kein Stillstand eintritt.

 

Der Ärztetag Baden-Württemberg im Spiegel der Presse

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letzte Änderung am 23.07.2013